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Martin U. Müller
im Interview

Wer bist Du und wie beschreibst Du Deinen Drive im Bereich digitaler Medizin, Deine Rolle?

Als Redakteur beim Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL beobachte ich seit Jahren die Digitalisierung der Medizin. Mich fasziniert die Wucht, mit der das System grundlegend verändert werden kann. Medizin wird zum Exportgut, Menschen können sich aus entfernten Ländern behandeln lassen. Patienten werden mit fertigen Diagnosen zum Arzt kommen und sie werden stimmen. Meine Erfahrung ist: Die Adaption digitaler Technologien verläuft nach immer ähnlichen Mustern, dabei ist es relativ egal, ob es um Medizin, das Verkehrswesen oder den Verkauf von Kochtöpfen geht. Ich habe das Privileg, das alles hautnahe verfolgen und für unsere Leser einordnen zu können.

Was ist Dein USP, Dein Alleinstellungsmerkmal? Was exakt findet in Deinem Alltag schon alles digital statt? Wo schafft die Digitalisierung damit einen Mehrwert?

Mein Smartphone ist durch Zusatzgeräte besser ausgestattet, als eine durchschnittliche Hausarztpraxis. Ich kann damit Hirnströme ableiten, den Augeninnendruck messen, ein EKG aufzeichnen, den Blutdruck bestimmen, Vorhofflimmern erkennen, die Lungenfunktion prüfen, Herzgeräusche speichern, Innenohraufnahmen machen, den Atemalkoholgehalt analysieren, die Hauptschlagader schallen und noch vieles mehr. Meine Wage bestimmt die Pulswellengeschwindigkeit, meine Zahnbürste wertet das Putzverhalten aus. Ich beobachte auch andere Branchen und interessiere mich für deren Digitalisierung. Nicht zuletzt arbeite ich selbst in einer Branche, die massiv im Wandel steckt. Die Medienindustrie war vergleichsweise früh mit der Digitalisierung dran, die Medizin ist noch nicht ganz so weit. Man kann für die Medizin eine Menge lernen, wenn man in andere, bereits weiter digitalisierte Branchen, schaut.

Wo siehst Du die größten Chancen und das größte Potenzial in der Digitalisierung der Gesundheit? Wieso? 

Profitieren werden auch und vor allem die Patienten: Ärzte müssen akzeptieren, dass Patienten viel wissen können. Früher musste man in eine Universitätsbibliothek gehen, wenn man mehr über die eigene Krankheit wissen wollte und sich Wichtiges aus einem Fachbuch abschreiben. Heute klickt man sich durch den Dienst ’Google Scholar’ und weiß über die eigene Diagnose vielleicht mehr als der behandelnde Arzt – der Patient muss sich nur mit seiner bikuspiden Aortenklappe befassen, der Kardiologe alle Herzkrankheiten im Blick behalten. Nur weil etwas im Internet steht, muss es nicht falsch sein. Im Gegenteil. Auch Menschen mit ziemlich kleinem Latinum finden richtige und vor allem verständliche Informationen. Darauf muss sich der Arzt einstellen. Er hat aber einen Trumpf in der Hand, den Patienten vorerst auch durch digitale Systeme schwerlich kompensieren können: klinische Erfahrung. Aber Approbation schützt nicht vor Wettbewerb. Ich glaube, dass Ärzte bald beweisen müssen, dass sie mit künstlicher Intelligenz mithalten können. Konkret sichtbar wird das zuallererst in der Radiologie, wo maschinelle Formenerkennung bei Röntgen-, MRT- und CRT-Aufnahmen angewandt werden wird. Die Dermatologie könnte folgen – da Mustererkennung auch bei Hautveränderungen eine Rolle spielen. Schon jetzt können EKGs von Maschinen interpretiert werden – bislang alles ärztliche Aufgaben. Mit der Erfindung des Stethoskops bekam der Arzt eine Schlüsselrolle, die es ihm ermöglichte, Körpersymptome wahrzunehmen und zu messen, die dem Patienten selbst verschlossen blieben. Durch die digitalen Möglichkeiten wird der Patient wieder mächtiger. Ich glaube nicht an eine menschenleere Medizin, der Patient wird sich nicht selbst behandeln. Es wird weiterhin Menschen in der Medizin geben – die Frage ist nur: mit welcher Qualifikation? Um jemanden zuzuhören und durch einen Behandlungsablauf zu begleiten braucht man nicht zwangsläufig eine Approbation. Ich bin überzeugt, dass neue Berufe entstehen – nicht nur Assistenzberufe, sondern auch akademische. Der Mediziner der Zukunft muss aber nicht zwangsläufig Arzt sein.

Wo konkret siehst Du das größte Marktpotenzial in der digitalen Gesundheit in den kommenden Jahren und wieso?

Der grundlegende Wandel ist mit elektronischen Patientenakten und -karten null beschrieben. Das Spannendste aus meiner Sicht ist: Medizin wird durch die Digitalisierung erstmals zum globalen Exportgut. Es ist theoretisch möglich, medizinische Dienstleistungen aus anderen Ländern heraus zu verkaufen. Das erleben wir schon heute am Beispiel der Telemedizin. Für diejenigen, die sich von der Digitalisierung ausschliessen, könnte es eng werden. Zwar bleibt weiterhin Arbeit, die nur analog im lokalen Krankenhaus behandelt werden kann, etwa ein Beinbruch. Aber die Medizin ist ja bekanntermassen mit unterschiedlich attraktiven Feldern ausgestattet – und die attraktiven Felder, etwa Gen-Datenbanken, könnten den nicht digital arbeitenden Krankenhäusern versperrt bleiben. Zunächst werden wir einen Boom in eher unterentwickelten Gesundheitssystemen erleben. In Ländern, in denen ein Arztbesuch eine finanzielle Hürde darstellt, werden sich die meist billigeren digitalen Lösungen in allen Indikationen schneller durchsetzen. In Ländern wie Deutschland, wo es ein relativ flächendeckendes Arztsystem gibt und die Bezahlung keine große Schwierigkeit ist, müssen digitale Systeme dem Behandler aus Fleisch und Blut überlegen sein. Sobald künstliche Intelligenz mit voller Wucht aufholt, wird das immer mehr der Fall sein. Auch darf man nicht unterschätzen, dass es eine Generation von Patienten gibt, die auch dann nicht zum Arzt gehen will, wenn die Praxis in der Nachbarwohnung ist. Sie hat gelernt, Taxis per Smartphone zu ordern, für den Flug online einzuchecken und kann sogar eine Beerdigung digital planen. Warum dann nicht den Arztbesuch zu jedem Zeitpunkt, ohne Wartezeiten, wahrnehmen? Was die Indikationen angeht glaube ich, dass sich Digitales besonders schnell bei Chronikern durchsetzt. Sie haben das größte Interesse, weil sie sich viel mit ihrer Krankheit beschäftigen müssen.

Was ist Dein konkreter Ratschlag an Gründer und Investoren im Bereich digital health? 

Kümmert Euch um wirkliche Innovationen. Viele der aktuellen Anwendungen schaden meist kaum, selbst wenn sie schlampig programmiert sind oder medizinischen Blödsinn als Grundlage haben. Sie sind Zeit- und Geldverschwendung. Überhaupt glaube ich nicht, dass simple Apps direkt Probleme in der Medizin lösen. Sie sind nur die Schnittstelle zu Algorithmen und Systemen mit künstlicher Intelligenz. Ich rechne schon bald damit, dass Klinikkonzerne wie selbstverständlich ihren Patienten Apps empfehlen werden, die direkt mit den eigenen Systemen interagieren können und einen internen Qualitätscheck durchlaufen haben. Ich würde mich eher auf tiefgreifende Probleme konzentrieren, als gleich der neue Gatekeeper im Gesundheitswesen werden zu wollen.

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